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Über das Neue

Wenn sich der Säugling auf dem Arm der Pflegerin schreiend von einem fremden Gesicht abwendet, der Fromme den neuen Zeitabschnitt mit einem Gebet eröffnet, aber auch die Erstlingsfrucht des Jahres mit einem Segens­spruch begrüßt, wenn der Bauer eine Sense zu kaufen verweigert, welche nicht die seinen Eltern vertraute Fabrikmarke trägt, so ist die Verschiedenheit dieser Situationen augenfällig, und der Versuch scheint berechtigt, jede derselben auf ein anderes Motiv zurückzuführen.

Doch wäre es unrecht, das ihnen Gemeinsame zu verkennen. In allen Fällen handelt es sich um die nämliche Unlust, die beim Kinde elementaren Ausdruck findet, beim Frommen kunstvoll beschwichtigt, beim Bauern zum Motiv einer Entscheidung gemacht wird. Die Quelle dieser Unlust aber ist der Anspruch, den das Neue an das Seelenleben stellt, der psychische Aufwand, den es fordert, die bis zur angstvollen Erwartung gesteigerte Unsicherheit, die es mit sich bringt. Es wäre reizvoll, die seelische Reaktion auf das Neue an sich zum Gegenstand einer Studie zu machen, denn unter gewissen, nicht mehr primären Bedingungen wird auch das gegenteilige Verhalten beobach­tet, ein Reizhunger, der sich auf alles Neue stürzt, und darum, weil es neu ist.


​Aus: Sigmund Freud, Psychoanalyse